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Stephan Geisler

Balanceakt einer Orange

Das Thema

Balanceakt einer Orange“ – ein scheinbar sehr eigenwilliges Thema für eine erste Zeichenübung des neuen ABOs, aber eigentlich auch wieder nicht. Denn was steckt eigentlich dahinter?

Wir alle kennen die typischen Zeichnungen von Paprika-Stillleben oder Entsprechendes mit Birnen und Äpfeln usw. Ich kann dieselben schon lange nicht mehr sehen.

Trotzdem sind genau diese Paprika, Orangen, Äpfel und Birnen so wunderbare Zeichenobjekte. Und deshalb sollten wir etwas tun, was wir sowieso gerade lernen müssen, wir müssen die Sicht auf die Dinge ändern.

Stell Dir vor, Du erhälst die Orange als Ganzes, fängst jedoch an, sie abzupellen, erste Stücke vorsichtig herauszulösen, führst durch die Mitte einen lange Faden, dessen dessen Ende Du an einem Stuhl befestigst und das andere Ende an einer Stehlampe, die gleichermaßen ein hartes und direktes Licht auf Dein Objekt wirft. Und schon hast Du kein klassisches Stillleben mehr, sondern ein komplett neues Objekt, das nie die Chance hatte, sich in deine abgespeicherten Sehgewohnheiten hineinzufressen. Du musst es jetzt erstmal kennenlernen und anschauen, wie einen kleinen Alien.

Wenn wir uns solche Voraussetzungen schaffen, müssen wir für neue Seherfahrungen nicht verreisen, sondern wir können mit dem arbeiten, was wir zu Hause haben. Und haben wir keine Orange, dann vielleicht eine Kohlrabi mit Laub, ein Bund Bananen oder womöglich 2x Mangold, die wir SM-like aneinanderfesseln könnten.

Und jetzt bist Du dran. Der erste Teil der Aufgabe: Finde Dein Objekt, denk Dir eine völlig abgefahrene und schräge Präsentation aus, hänge das Ganze auf und beleuchte es. Und nimm Dir wirklich Zeit. Denn die Qualität des neuen Objektes, die neue Sicht auf das Objekt wird einen Großteil der Qualität Deiner Zeichnung ausmachen. Genieße es!

Die Arbeitsschritte

Schritt 1 Die Orientierungsskizze

Starten wir linear mit einer ersten Skizze, aber generell gilt, versuche immer die „schönsten“ Linien zu machen, zu denen Du in der Lage bist, variationsreich in Stärke, Feinheit, Massivität und auch Tempo. Durch diese Variationen entsteht zeichnerische Spannung. Ggf. trainiere das auch ohne Objekt immer mal wieder, um Deine Hände daran zu gewöhnen.

Darüber hinaus soll die Skizze zwei Sachen bewirken. Sie soll zum einen das Blatt gliedern, also festlegen, wie groß das Objekt wird, wo es auf dem Papier platziert ist, inwieweit es irgendwo über den Rand hinausgeht usw.

Zum anderen soll es natürlich auch schon einen groben Abriss der Form und der richtigen Proportionen bieten. Trotzdem arbeite in diesem Schritt recht rasch, es geht noch nicht um Details.

Schritt 2 Die Zwei Drittel genaue Skizze

Im zweiten Schritt nimm Dir 2 zusammenhängende Drittel Deiner Skizze vor und skizziere diese zwei Drittel sehr viel genauer, sehr viel detailverliebter, aber immer noch linear. Das restliche Drittel lass komplett von den weiteren Schritten unbearbeitet.

Schritt 3 Lasur mit Grau

Nun mische Dir eine mittelgraue Lasur an, tendenziell eher ein helles Mittelgrau als ein dunkles. Hierzu nimm etwas Wasser und tropfe etwas schwarze Tinte oder Tusche hinein. Wenn Du das nicht da hast, improvisiere! Vielleicht kannst Du Kohle pulverisieren und verwässern oder Du hast noch Wasser- oder Aquarellfarbe oder Dir fällt ganz was anderes ein! Improvisieren kann sehr viel Spaß machen und den visionären Geist aktivieren.

Nun lasiere Ca. 40-50% Deiner Zeichnung. Beziehe Dich insbesondere auf die Schattenbereiche. Deshalb eine Lasur, um ruhige flächige Flächen zu schaffen, die unaufgeregt sind, aber trotzdem eine zeichnerische Dichte einleiten und bereits Plastizität schaffen.

Schritt 4 Zeichnung der Orange mit orange

Nun arbeite mit einem orangefarbenen Farbstift (Buntstift). Zeichne wie in Schritt 1 und 2 rein linear, arbeite aber tendenziell impulsiv und bevor Du einfach Linien nachzeichnest – Das wird dann in der Regel sehr plump! – setze neue Linien, versetze sie, gemessen an den schon Vorhandenen, und arbeite – wie in Schritt 1 beschrieben – mit starken Linienvariationen. Sei hier und da gerne auch ein bisschen wild!

Schritt 5 Schraffur mit Orange

Behalte Dein Material und nun setze mit dem orangefarbenen Farbstift Schraffuren. Setze generell keine Kreuzschraffuren, die machen eine Zeichnung meistens unnötig pragmatisch, sondern arbeite eher mit parallelen Linien, die aber auch immer wieder ausbrechen sollen. Auch hier gibt es Variationsmöglichkeiten. Du kannst in der Liniendichte variieren, d.h. eine Fläche ganz stark verdichten oder die einzelnen Linien der Schraffur stark sichtbar lassen, z.B. durch freie Zwischeräume. Außerdem kannst Du ganz stark in den Randbereichen einer Schraffur variieren. Du kannst eine Fläche mit einer ganz klar definierten Kante abschließen, Du kannst Deine wilden Schraffurlinien aber auch so stark am Rand ausufern lassen, dass Du weit von einer klaren Kante entfernt bist.

Da wo Du eine klare Kante brauchst, setze sie und wenn Du sie nicht brauchst, werde gerne etwas wild und unbestimmt in der Form. Spiele und bearbeite ca. 20-25% Deiner Zeichnung mit dieser orangefarbenen Schraffur.

Schritt 6 20-30% Schwerpunkt

Nun such Dir 20-30% Deiner Zeichnung aus, am besten einen Teil, der zeichnerisch eh schon sehr verdichtet ist und arbeite diesen Bereich zu Deinem Schwerpunkt heraus. Was könnte diesen Schwerpunkt zusätzlich noch ausmachen?

  • Extreme Schwärze an einigen Stellen

  • Detailfreude

  • Herausarbeitung von realistischen Strukturen

Dieser letzte Schritt sollte die Zeichnung auf jeden Fall abschließen!

Die Reflektionsfragen

So, die erste Zeichnung ist fertig. Und wenn Dir jetzt schon kein Dozent über die Schulter schaut, um Dich zu loben und die Zeichnung mit Dir zu erörtern, dann schaue sie Dir doch selbst an, um über diesen Reflektionsprozess auch etwas Bildbetrachtung zu üben. Du bekommst als Hilfestellung in jeder Übung am Ende noch drei Reflektionsfragen gestellt.

Und hier sind sie:

  1. Hat die Komposition geklappt? Hast Du das Gefühl, das Verhältnis Objekt und Hintergrund ist für Dich in einem guten Verhältnis? Hast Du das Gefühl, irgendetwas stimmt an Deiner Flächengliederung und Schwerpunktbildung nicht?

Was hättest Du bei einem zweiten Durchgang anders gemacht?

  1. Wie ist die Farbgebung für Dich. Bei einer Orange passt Orange natürlich zum Thema, aber ggf. hast Du ein anderes Objekt genommen. Passt die Farbgebung hier auch? Und wie ist das Verhältnis von Orange und Grau (Bleistift und Lasur) zueinander? Was würde sich an der Wirkung des Bildes ändern, hättest Du sehr viel mehr oder sehr viel weniger Orange genommen?

  1. Hat das Thema für Dich geklappt? Ist Dein Objekt eigenwillig genug geworden? Falls ja wodurch? Falls nein, was würdest Du in einem zweiten Durchgang anders machen?

In einer Woche geht es weiter und falls es Dir zu lange dauert, mach diese Übung doch einfach noch einmal, vielleicht in einer Variation. Dir eine schöne Woche, bis in 7 Tagen – Stephan