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Stephan Geisler

Aufreißer/innen

Eine volle Tüte und eine Stehlampe

Inzwischen unterrichte ich bereits so viele viele Jahre künstlerische Techniken und Wahrnehmung und beim Schreiben der Aufgaben für die Trainingsabos bin ich selbst immer wieder überrascht, wie viele Tausende von Ansätzen es gibt, eine Aufgabe zu stellen. Wir haben die Variablen der Komposition, der Technik, des Materials, des Inhalts, der Idee, des Konzepts, der Beleuchtung, der Farbe und und und ….

Ist es nicht erstaunlich? Und wenn man dann in Alltagsgesprächen so etwas hört, wie „Ich zeichne jetzt auch …“, hört sich das so auf ein Minimum heruntergebrochen an. Und so denkt man in diesem Moment natürlich auch und nach und nach wird dieses Universum größer und größer und größer.

Heute sollst Du zum Aufreißer werden und dazu benötigst Du eine gefüllte und verschlossene Tüte, mit einem FÜR DICH GRAPHISCH AUFREGENDEM INHALT! Und … außerdem wäre es ganz wunderbar, wenn diese Tüte, die Verpackung außen auch noch Schrift aufweisen würde. Was kann das alles sein? Hier ein paar Beispiele:

  • Eine Tüte mit Haribo Lakritzschnecken

  • Eine Tüte mit Keksen

  • Eine Tüte mit Gemüse

  • Eine gemischte Tüte vom Büdchen

  • Eine Tüte mit Knöpfen

  • Eine Tüte Nudeln

Wahrscheinlich fällt Dir noch ein viel größeres Sortiment an Möglichkeiten ein. Es ist auch ganz spannend mit so einem Thema in einen asiatischen oder türkischen Lebensmittelmarkt zu gehen oder besonders schräge Geschäfte aufzusuchen um nach gefüllten Tüten Ausschau zu halten.

Wenn Du die Tüte Deiner Begierde vor Dir liegen hast, lege sie auf einen glatten, sauberen Untergrund und reiße sie an einer Stelle auf und lasse den Inhalt anfangen herauszupurzeln. Die Situation wäre also die, auf einem glatten Untergrund liegt eine aufgerissene Tüte, aus der der Inhalt anfängt herauszufallen. Die Situation soll jetzt noch mit einer Stehlampe oder einem Strahler von der Seite recht klar beleuchtet werden. Achte darauf, wie nah oder weit die Lampe vom Objekt entfernt steht. Probiere verschiedene Möglichkeiten aus und wähle bewusst eine Entfernung. Dabei ist es allerdings wichtig, dass der Innenraum der Tüte dunkler ist, als die Außenbereiche.

Der Bleistift

Trotz der vielen Möglichkeiten, die wir in der Zeichnung haben, geht es heute technisch fast nur um den Bleistift. Es geht um ein eher großes Blatt. Auf diesem großen Blatt soll das Objekt mittig gezeichnet werden, mit recht viel Hintergrund, ohne dass dieser in irgendeiner Form bearbeitet werden soll. Dadurch präsentieren wir dieses Objekt, es geht nur darum, um nichts Anderes. Es ist an dieser Stelle ganz schön zu verstehen, dass die von vielen gemiedene, fast verbotene Mittigkeit letztlich auch ein kompositorisches Konzept ist.

Die Übung

Bei der Wahl des Papieres achte darauf, dass es für den Bleistift perfekt geeignet ist. Drei Eigenschaften sollte es haben:

  • Erstens sollte es glatt sein.

  • Zweitens sollte es einen guten Abrieb haben. Sprich, der Bleistift sollte relativ einfach Spuren hinterlassen können, ohne dass Du zu fest aufdrücken musst.

  • Extreme Dunkelheiten mit dem Bleistift sollten möglich sein. Es gibt Papiere, auf denen wird der Bleistift eher glänzend als dunkel. Auf lange Sicht hin, solltest Du immer mal wieder verschiedene Papiere ausprobieren und die für Dich optimalen Papiere herausfinden. Denn das Papier selbst in Korrespondenz mit Deiner Arbeitsweise macht schon viel der Qualität aus, die Du anstrebst.

Und los geht’s!

Schritt 1 Die Vorzeichnung

Arbeite mit einem HB Bleistift. Plaziere Dein Objekt und achte unbedingt darauf, dass es perfekt mittig sitzt. Wenn es nicht klappt, nimm ein neues Blatt. So simpel sich diese Mittigkeit anhört, so schwierig ist sie umzusetzen. Aber wenn die Vorzeichnung einmal steht, musst Du Dich darum nicht weiter kümmern.

Wenn es nach diesem ersten Schritt nicht sitzt, wirst Du später allerdings auch keine Gelegenheit haben, das zu korrigieren.

Bezüglich der Vorzeichnung sei noch gesagt, sie soll nicht absolut detailgetreu und akkurat sein, aber auch nicht grob. Es ist eher eine Mischung dazwischen, zügig aber durchaus an vielen Stellen schon mit einer gewissen Hingabe zum Detail. Die Linien sind eher zart als gestisch akzentuiert.

Schritt 2 Die differenzierte Schwärze

Obwohl die Vorzeichnung noch keineswegs perfekt ist und noch viele Details und Differenzierungen fehlen, machen wir direkt mit der Schwärze weiter. Die Schwärze oder Dunkelheit sollte natürlich vor allem da auftauchen, wo sich Deine Schatten befinden. Wenn Du Dein Objekt, wie beschrieben, ausgeleuchtet hast, werden sich viele Dunkelheiten in der Tüte befinden.

So dunkel der Schritt sein soll, so differenziert sollst Du ihn aber trotzdem umsetzen. Werde extrem dunkel mit verschiedenen Bleistiftstärken. Gehe sowohl ins Detail, fasse Dinge, die im Schatten sind, aber genauso gut mit dunklen Schraffuren zusammen. Es soll kein schnell rascher dunkler Schritt sein. Nimm Dir alle Zeit, die Du brauchst.

Schritt 3 Die graue Lasur

Nun überziehe die Bereiche, die sich komplett im Schatten befinden teilweise noch mit einer dunkelgrauen Lasur.

Schritt 4 Die Tütenform

Kümmere Dich jetzt noch einmal ganz besonders um die Tüte und ihre Form. Das soll mehr ein linearer Schritt sein, als dass Du wahnsinnig viel schraffierst. So eine Tüte hat womöglich erstmal gar keinen großen Reiz für einen Zeichner, umso wichtiger ist es, sie jetzt genauer zu betrachten. Nur so können wir die auch ganz winzigen Stellen finden, die graphisch einen besonderen Reiz besitzen. Selbst wenn wir sie so kaum sehen, können wir sie in unserer Zeichnung als besonders und wichtig herausstellen. Diese Möglichkeiten müssen wir lernen sehr viel mehr zu nutzen. Also geh der Tüte auf die Spur, schaue sie Dir immer wieder an, erfasse sie zeichnerisch und achte darauf, dass die Außenkontur nach außen auch an einigen Stellen aufspringt oder extrem zart ist. In den besagten Details setze gerne auch einige zarte Schraffuren.

Schritt 5 Der Text

Nun kümmere Dich um einen Teil des Textes, eher ein groß geschriebenes Wort als Fließtext. Text ist ein ganz eigenes Kapitel, es ist fast ein eigener Studienbereich, wenn man sich mit Text professionell beschäftigen möchte. Ich merke es nur deshalb an, um Dich dafür sensibel zu machen, dass es wirklich schwer ist und Du nicht deprimiert sein solltest, wenn es nicht gleich klappt. Wenn Dich Text in Zeichnung interessiert, beschäftige Dich neben diesen Übungen sehr häufig damit. Es ist ein schönes Feld und wird schnell auch zum Alleinstellungsmerkmal für Dich als KünstlerIn.

Es gibt beim Text zwei grundlegende Möglichkeiten:

  1. Du setzt den Text dahin, wo er sich in der Realität befindet, aber Du gehst sehr frei und eigenwillig damit um und kümmerst Dich nicht um die Schrifttype, die sich auf Der Tüte befindet.

  2. Du plazierst auch jetzt den Text da, wo er sich befindet, aber Du versuchst die Schrifttype exakt nachzuahmen. Das heißt, Du solltest versuchen, die Proportionen der einzelnen Buchstaben exakt zu erfassen. – Ja das ist schwer!

Schritt 6 Das Konzept und die Details der Füllung

Nun schaue Dir die Elemente an, die in der Tüte sind oder waren, weil sie bereits herausgefallen sind. Nun versuche Dir vorzustellen, dieser Inhalt wäre ein eigenständiges Bild und nun ginge es darum, diese eigenständige Bild zu komponieren, unter folgenden Aspekten:

  • Wo ist der Schwerpunkt und wo sind mögliche Korrespondenzpunkte?

  • Wo befindet sich die am meisten ausgearbeitete Realität?

  • Wie sind Helligkeit und Dunkelheit verteilt?

  • Wo sind eher freie und rasche Stellen usw.

Stelle Dir für diesen Bereich ein entsprechendes Konzept zusammen und führe es aus! Nimm Dir immer die Zeit, die Du benötigst!

Schritt 7 Der Farbstift

Zum Abschluss setze noch einmal eine Farbe mit dem Buntstift ein, gerne etwas Intensives, gerne linear mit ggf. wenigen winzigen Schraffuren.

Die Reflektionen

In solchen Übungen merkt man immer, wieviel der Bleistift alleine kann. Aber natürlich muss man sich darauf einlassen. Wir haben so viele Möglichkeiten und sollen nur eine nutzen. Wie waren Deine Erfahrungen mit dieser Übung.

  1. Welcher Part dieser Übung war für Dich am schwersten? Kannst Du sagen, warum? Gab es dafür andere Schritte, die Dir besonders leicht gefallen sind? Hast Du eine Idee, woran das liegen könnte?

  2. Welche Funktion hatte die graue Lasur? Es war ja nun der einzige Schritt, der nicht Bleistift war. Hätte man diesen Schritt auch mit dem Bleistift machen können? Was wäre anders oder auch schwerer gewesen?

  3. Hättest Du Dein Objekt gerne noch größer gezeichnet? Was wäre in der Arbeitsweise und Wirkung anders gewesen? Vielleicht hast Du sogar Lust, es mal auszuprobieren ….

Und so gehen die Wochen ins Land. Schon wieder ist eine Übung geschafft! Glückwunsch! Und in Kürze kommt schon die 8. Übung. Habe eine sonnige und inspirierende Woche und bleibe gesund – herzlichst Stephan