fbpx

Stephan Geisler

Das Luxusschnittchen

Die Inszenierung des Alltags und die Objektsuche

Wo sind eigentlich die Dinge, die wir zeichnen möchtenß Für viele ist schon dieser Punkt so schwer zu beantworten, dass sie erst gar nicht anfangen zu zeichnen. Dabei ist das „Glück“ oft so nah. Die Kunst liegt darin, den Blickwinkel zu ändern. Ein Schnittchen ist ein Schnittchen. Ein Bütterchen ist ein Bütterchen. Womöglich ist es ganz schön hergerichtet, um die Begierde des Essenwollens noch etwas zu verstärken oder um auch den Augen ein Schmankerl zu servieren, aber hast Du jemals Dein Schnittchen unter dem Aspekt betrachtet, Du könntest es auch einfach mal zeichnen??? Oder welche Kriterien müsste ein Schnittchen erfüllen, damit es für Dich einen graphischen, einen zeichnerischen Reiz beinhaltet? Und diese Frage ist die Kernfrage dieser Übung.

Du sollst nämlich ein Luxusschnittchen (belegtes Brot) kreieren, dass Du einfach zeichnen musst, weil es so unendlich schön ist. Falls Du es dann beim Zeichnen nicht vergammeln lassen möchtest, machst Du einfach ausreichend und wunderbare Fotos. Dann kannst Du nach ebendiesen zeichnen und beizu dem Schnittchen seine eigentliche Funktion zuführen.

Wie sollte so ein Schnittchen aussehen?

Wichtig ist, dass wir auch bei den scheinbar wenig zeichenwerten Objekten eben solche finden, die über besondere Eigenschaften oder Funktionen verfügen. Umso mehr haben wir zu zeichnen.

Nehmen wir als Beispiel eine Scheibe Brot. Nimmst Du eine Scheibe Vollkornbrot aus der Packung, sehen alle Scheiben gleich aus und an der einzelnen Scheibe ist erstmal nicht viel dran! Nimmst Du aber ein krustiges Bauernbrot vom Bäcker Deines Vertrauens und nimmst dann noch die Scheiben, die die markanteste, spezifischste Krustenausprägung haben, die Du jemals gesehen hast, DANN hast Du auch etwas zu zeichnen.

Genau dieses Beispiel trifft natürlich auf alle beteiligten Ingredienzien zu.

Aber was könnte jetzt konkret alles beteiligt sein?

  • Das Brot an sich, 1-2 Scheiben

  • Butter, die auch gerne mal dick über den Rand quillen darf

  • Verschiedene Belage, so übereinandergeschichtet, dass die Seite des belegten Brotes, die Du zeichnen möchtes, besonders reizvoll wird (siehe Bauernbrot)

  • Salataccessoires, wie Tomatenscheiben, Gurkenscheiben, Salat, vielleicht 1-2 Stangen Spargel, ein paar Keimlinge usw.

Letztendlich schmierst Du kein Schnittchen, sondern Du baust eine Installation. Schon in dieser Tätigkeit bist Du Künstler. Du musst alle beteiligten Elemente sorgsam auswählen und kreativ, eigenwillig, spezifisch, künstlerisch zusammenfügen. So ist dieser erste Part bereits ein künstlerischer Akt.

Die zweite Frage, die sich stellt ist, wie schaue ich normalerweise auf ein Schnittchen, was ist die Sehgewohnheit und wie könnte ich mit dieser Sehgewohnheit brechen?

Das ist der zweite künstlerische Part, die Bestimmung des richtigen Blickwinkels und damit die Schaffung einer künstlerischen Idee.

Aug in Aug mit einem Luxusschnittchen, die totale Froschperspektive.

Wenn Du diese wunderbaren Vorbereitungen nach bestem künstlerischen Wissen und Gewissen erledigt hat, dann kommt die Zeichnung selbst …..

Die Übung

Bevor Du anfängst zu zeichnen, sondiere sehr genau, welchen Blickwinkel Du einnehmen möchtest. Das Schnittchen selbst sollte sehr formatfüllend sein. Wähle ein Zeichenpapier, dass auch für den Einsatz von Nassmaterialien geeignet ist, wie z.B.das Arches satiné.

Der letzte Schritt wird flächige Tusche sein. Wenn das Papier dann zu dünn ist, bekommt es schnell Wellen und Falten. Format gerne ca. DinA3.

Schritt 1 Die opulente Inszenierung

und die Skizze

Wenn Du Deine Luxusschnittchen-Installation abgeschlossen und den besonderen Blickwinkel bestimmt hast, geht es um die erste Skizze. Sie soll Dir in erster Linie eine Orientierung auf dem Blatt verschaffen, aber sie sollte auch schon die genaue Form bestimmen und hier und da leicht ins Detail gehen. Denke in diesem Schritt eher an zarte Linien, die auch mal akzentuiert sein können. Die eigentliche Zeichnung folgt erst noch, da reicht es, wenn der Unterbau eher zart ist.

Vorgabe: Formatfüllend! Also opulent und groß!

Arbeite in diesem Schritt mit einem Farbstift, eine gedeckte helle Farbe, KEIN Gelb!

Schritt 2 Die Zeichnung

Nachdem Du Dein Objekt platziert hast und die grobe Form steht, kannst Du eine wesentlich genauere Zeichnung darüber setzen. Bleibe bei einzelnen Linien, setze keine Schraffuren, gehe aber tatsächlich an einigen Stellen schon sehr ins Detail.

Schritt 3 Dunkelheiten

Nun setze alle Dunkelheiten, gerne, wo möglich, auch sehr gestisch und ein wenig wild. Vor allen da, wo es ins Schnittchen „hinein“ geht, wirst Du viele Dunkelheiten finden. Arbeite mit einem weichen Bleistift und entsprechend viel Muskelkraft.

Schritt 4 Die malerische Grundlage

Nun stelle Dir einige Buntstifte zusammen, tendenziell dezente Farben, die entweder in sich einen Farbakkord bilden, den Du „gut“ findest, oder bestimme einen Farbakkord, der sich mehr auf die Farben Deines Objektes bezieht, trotzdem aber eher dezent ist.

Mit diesen Farben schraffiere ca. 50% Deines Schnittchens, fast ein bisschen malerisch.

Schritt 5 Die kleinen Schwerpunkte

In dieser Zeichnung benötigen wir nicht den EINEN universellen Schwerpunkt, den immer wieder sogenannten „Hingucker“, sondern wir brauchen ganz viele kleine Schwerpunkte über das Objekt verteilt, teilweise nur 1Cent-Stück groß, durchaus in Ihrer Wertigkeit sehr nah beieinander. Beim Zeichnen überlege, wo der Unterschied steckt zu dem einen dominanten Schwerpunkt.

Arbeite in diesem Schritt mit Bleistiften und arbeite die kleinen Bereiche sehr genau heraus, mit Schraffuren, Akzenten, nah am Objekt usw.

Schritt 6 Die kraftvolle Kontur

Nun setze mit einer kraftvollen Farbe (Buntstift) in einem Drittel Deines Schnittchens nochmal neue Konturen und zeichnerische Elemente. Überlege Dir im Vorfeld genau, wo sich dieses Drittel befindet. Mit so einem Schritt greifst Du sehr stark in die bestehende Komposition ein.

Schritt 7 Der SchnittchenSchlagschatten

Stelle Dir vor, Das Schnittchen wird nun von rechts oben von der Seite so extrem beleuchtet, dass es einen deutlich erkennbaren Schlagschatten auf den Untergrund wirft. Diesen nun von Dir erdachten Schlagschatten definiere ganz exakt mit einer dünnen Bleistiftlinie. Ggf. korrigiere sie nochmal und radiere die „falsche“ Kontur wieder weg. Wenn dieser Schlagschatten exakt definiert ist, fülle ihn mit einem Buntstift, aber mit einer sehr kräftigen Farbe Deiner Wahl, komplett aus, möglichst in einer Weise, dass man keine einzelnen Striche erkennt, sondern eher eine plakative, monochrome, glatte Fläche entsteht.

Schritt 8 Der Hintergrund

Im letzten Schritt fülle den kompletten restlichen Hintergrund absolut plakativ mit einer schwarzen Tusche aus. Aber ACHTUNG!!!

Da die schwarze Fläche hyperexakt an Dein Schnittchen angrenzen soll, müsstest Du zuerst mit der Tusche und mit einem feinen Aquarell- oder einem Tuschpinsel das Schnittchen absolut bis ins Kleinste exakt umfahren und zwar so, dass die äußeren Bleistiftlinien als Linie erhalten bleiben. Dieser Schritt mag womöglich etwas dauern, aber hier ist Pingeln nicht nur erlaubt sondern mehr als erwünscht.

Die Reflektion

Hat Dir diese Übung neue Erkenntnisse gebracht? Lass uns einige Aspekte noch einmal etwas genauer beleuchten!

  1. Du siehst, der von uns kaum noch beachtete Alltag bietet uns zeichnerisch unendlich viele Möglichkeiten, wenn wir bereit sind, unseren Blick zu verändern, einen neuen Blickpunkt einzunehmen. Das ist übrigens in jeder Lebenslage eine erstrebenswerte Eigenschaft! Sind Dir während des Schnittchenschaffens noch weitere Ideen gekommen, welche anderen Alltagssituationen womöglich mehr zeichnerisches Potential besitzen, als erwartet? Welche sind das? Werde konkret!

  2. Was bewirken viele kleine und kleinste Schwerpunkte gegenüber einem großen? Inwiefern wird das Auge anders geführt? Was für eine andere Wirkung oder Bildaussage ergibt sich dadurch?

  3. Wie fügen sich der plakative Schlagschatten und der plakative Hintergrund in der Zeichnung zusammen? Hat der Schlagschatten dabei noch eine andere Funktion als der dunkle Hintergrund? Was genau bewirkt der dunkle Hintergrund?

Wieder eine Aufgabe geschafft und Montag geht es schon wieder weiter, freu Dich drauf! Ganz liebe Grüße – Stephan