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Stephan Geisler

Das Westparkidyll

Das thema und der bleistift

In dieser Woche geht es um einen Ort in meiner Nachbarschaft, um den Westpark rund um die Jahrhunderthalle in Bochum. Die Jahrhunderthalle in Bochum ist eine alte Industriehalle aus der stahlproduzierenden Industrie. Seit vielen Jahren finden hier aber inzwischen Kulturveranstaltungen statt, so war es von Beginn an der Hauptaustragungsort der Ruhrtriennale.

Um diese Halle herum ist ein parkähnliches Gelände angelegt mit so einigen kleinen industriellen Fragmenten aus der Zeit, mit kleinen Gewässern, Wiesen, Bäumen, vor allem Birken.

Am Tage wird dieses Gelände sehr stark frequentiert. Wenn ich aber morgens mit meinen Hunden durch diesen Park streife, am besten noch bei minimalen Nieselregen oder bei blauen Himmel mit der gerade aufgehenden Sonne wird diese Anlage mystisch und besonders und man fühlt sich fast als letzter Bewohner dieser Erde. Es ist eine sehr besondere Stimmung zu dieser Zeit des Tages.

Dort habe ich neulich für unsere Übungen ein paar Fotos gemacht, gebannt von der kleinen Stille und den besonderen Fundmomenten. Du wirst es vielleicht eher als Landschaft ansehen, und das ist auch völlig in Ordnung. Aber die Schilderung der Situation soll Dich einfach animieren, ähnliche Orte zu bestimmten Tageszeiten auch mal in Deinem Umfeld aufzusuchen. Denn am Ende ist genau dieses Erleben die Inspiration, die Muse, die uns zu ganz anderen Leistungen führt, als die rein technisch pragmatisch gekonnte Umsetzung von Realität. Probiert es aus, zeichnet mal in der Natur.

Zugegebenermaßen wird es heute schwierig. Wenn es Dir zu schwer ist, versuche einfach, Dich so gut wie möglich durchzuarbeiten. Denn so lernst Du!

Lass mich kurz die Herausforderungen erklären, die die heutige Übung mit sich bringt:

  1. Wir arbeiten ausschließlich mit dem Bleistift, verschiedene Stärken und möglichst so variationsreich. Wir haben also nicht die zufällige Lasur oder die ablenkende Farbe. Jeder Strich ist von Dir geführt, jede Variationsbreite musst Du bewusst heraufbeschwören. Und trotzdem, wenn man einmal an dem Punkt ist, dass der Körper und der Geist mit dem Bleistift verschmelzt, dann gibt es nichts Schöneres, nichts Verinnerlichenderes mehr. Zugegebenermaßen dauert es ein bisschen, aber dann denkt man nur noch und der Bleistift macht ….

  2. Die zweite Herausforderung liegt in der Aufgabenstellung selbst. Von Schritt zu Schritt sollen zwei Dinge passieren. Zum einen soll die Zeichnung detaillierter, realistischer und dichter werden …. Das ist gar nicht wirklich neu, aber der Anteil eines Arbeitsschrittes am Blatt wird immer kleiner. Während Du im ersten Schritt 100% Deines Blattes bearbeitest, sind es im 4. Schritt 70 %. Hinzu kommt – UND DAS IST WIRKLICH WICHTIG ZU VERINNERLICHEN – dass Du immer nur in dem Bereich des vorherigen Schrittes weiterarbeitest. Beispiel: Wenn Du im zweiten Schritt 10% nicht bearbeitest, bleiben diese 10% während aller nachfolgenden Schritt auch unbearbeitet. Die 30%, die Du im vierten Schritt unbearbeitet lässt, bleiben für den Rest der Übung unbearbeitet usw. Das Prinzip hat zum einen den Sinn, die Zeichnung an bestimmten Stellen viel viel dichter werden zu lassen, als man es sich normalerweise traut, weil der Aktionsbereich immer kleiner wird, aber immer noch etwas gemacht werden soll. Zum anderen soll man relativ lange relativ viel des Blattes bearbeiten. Auch das ist für viele erstmal ungewöhnlich. Das bedeutet aber auch, umso größer das Blatt, umso sehr viel länger wird die Zeichnung dauern. Bleistift geht nicht schnell!!!!!

  3. Die dritte Schwierigkeit ist das Motiv selbst. Wir haben nicht einfach eine oder mehrere klar erkennbare Formen, die wir definieren und ausführen. Zwar haben wir auch Formen und Formenansätze, aber wir haben auch viele Bereiche , die eine so extreme Vielzahl an kleinen Formen und Strukturen haben, dass wir diese nicht eins zu eins umsetzen bzw. definieren können.

Nehmen wir das Blattwerk einer Birke. Alle Blätter zeichnen funktioniert nicht. Wir sehen auch gar nicht jedes einzelne Blatt und einmal mehr kommen wir so zu der These „Wir malen nur das, was wir sehen“. Und wenn wir bei den Birkenblättern eher eine Ansammlung von hellen und mittelhellen kleinen Flächen sehen, dann zeichnen wir ebendiese. Natürlich müssen wir durch intensives Schauen jeweils verstehen, wie groß oder klein einzelne Linien oder Schraffuren sein sollen, in welche Richtung sie gehen usw. Und das wird für die meisten die größte Herausforderung sein. Aber wenn man irgendwann mit einer genussvollen zeichnerischen Hingabe und Selbstverständlichkeit zeichnen möchte, gehört die Auseinandersetzung mit abstrakteren Motiven unbedingt dazu. Zeichnen lernen heißt Sehen lernen. Und hier haben wir „Sehen“ auf einem anderen Level.

Aber lass uns mit der Übung starten. Wähle ein Format etwas größer als DinA4. Wenn es Dir Spaß macht und Du die Übung noch einmal machen möchtest, versuche Dich gerne auch mal an einem DinA3 Format.

Die Übung

Zuerst gilt es ein passendes Foto auszusuchen. Vier Fotos stehen zur Verfügung. Wähle sie nicht einfach nur nach spontanem Gefallen aus, sondern überlege auch, welches Foto Dir bezüglich der zeichnerischen Umsetzung bzw. der zeichnerischen Umsetzbarkeit eher plausibel erscheint. Bei der Wahl des Fotos fängt die Auseinandersetzung mit Deiner Zeichnung bereits an.

Schritt 1 Lineare leichte Skizze – 100 %

Fange mit einer schnellen akzentuierten Skizze an, um die grundlegende Situation zu umreißen, arbeite dabei ziemlich schnell aber mit einem harten Bleistift (H). So hinterlässt Du trotz der Schnelligkeit und der Akzente nicht zu dunkle Linien. Schließlich wollen wir uns erst nach und nach steigern ….

Und denk dran, involviere das komplette Blatt!!

Schritt 2 Leichte Schraffuren – 90 %

Kommen wir zu ersten leichten, raschen und ebenso akzentuierten Schraffuren, dieses Mal auf nur 90% Deines Blattes. 10% bleiben also völlig vernachlässigt. Die Schraffuren sollen erste Hinweise auf Licht und Schatten sein und Unterteilungen der verschiedenen Bereiche. Arbeite wieder mit dem harten Bleistift und sehr leicht und rasch in der Bleistiftführung. Es geht in diesem Schritt noch nicht um Details.

Schritt 3 Eine akzentuiertere Skizze – 80 %

Und es geht nochmal um ein lineares Erfassen der Situation, dieses Mal auf 80% Deines Blattes, aber nur in dem Bereich des vorhergehendes Schrittes. Arbeite mit einem HB-Bleistift, gehe sehr viel mehr ins Detail (nur linear) und werde etwas kraftvoller als in der ersten Skizze. Denke in jedem Schritt an das Prinzip der stärker werdenden räumlichen Begrenzung!

Schritt 4 Mehr Deatils – 70 %

Nun arbeite auf 70% Deines Blattes. Im Grunde ist dieser Schritt eine Wiederholung von Schritt 2, nur wesentlich detaillierter und sehr viel dunkler, aber genauso akzentuiert. Die Akzente können auch im ganz Kleinen stattfinden.

Schritt 5 Dichtere Schraffuren – 60 %

Nun fange an auf 60% des Blattes sehr viel dichter zu schraffieren, gehe mehr ins Detail, lagere Schraffuren übereinander.

Schritt 6 Eine Akzentuierte Skizze – 50%

Versuche auf 50% des Blattes noch akzentuiertere skizzenhafte Linien zu setzen. Ggf gehst Du hier schon in eine starke skizzenhafte Kleinteiligkeit, ich denke da an die Strukturen der Blätter und Birken u.ä.

Schritt 7 Verdichtungen – 40%

Nun verdichte 40% Deines Blattes sehr stark über Schraffuren, immer wieder auch übereinander, fast malerisch, mehr ins Detail gehend, hier und da auch überordnend. Mehr Verdichtung schaffst Du durch mehr Druck und durch mehr Schichten.

Schritt 8 Kleine Schwerpunkte – 30%

Der achte Schritt öffnet sich ein wenig. Wir benötigen mehrere winzige Schwerpunkte, winzige. Diese dürfen ausnahmsweise überall stattfinden, sofern sie wirklich winzig sind. Schwerpunkte über mehr Realität, Detail und Verdichtung.

Schritt 9 Dunkelheiten – 20%

Jetzt kommen endlich die tiefen schwarzen Dunkelheiten auf nur 20% Deines Blattes nach dem in der Übung zugrundeliegendem Prinzip. Dunkel heißt wirklich dunkel! Wenn Du einen weichen Bleistift nutzt, sollte der immer gut angespitzt sein, ansonsten wird dieser Schritt kurz vor Ende zu plump.

Schritt 10 Der totale Schwerpunkt – 10 %

Jetzt arbeite die letzten 10 % sehr dicht und massiv als Schwerpunkt heraus!

Die Reflektionsfragen

Du hast sicherlich festgestellt, dass man während dieser vielen Schritte, die Dichte, in der man arbeitet, gut im Auge behalten muss. Schnell wird es viel zu dicht und die letzten Schritte funktionieren nicht mehr. Auch das ist eine Krux dieser Übung. Beim ersten Mal bekommt man das manchmal nicht sofort hin und man ist womöglich schon früher mit der Zeichnung fertig, aber mit so einer Erkenntnis lohnt sich unbedingt eine Wiederholung.

Aber gehen wir mal etwas mehr ins Detail.

  1. Wie bist Du mit dieser stufenweisen Verdichtung klargekommen? Es war sicherlich fremd, aber hast Du das Prinzip verstanden? An welchen Punkten der Übung hättest Du mit Deinen jetzigen neuen Erkenntnissen etwas anders gemacht? Was glaubst Du, hättest Du damit erreicht?

  2. Wie ist die Abstraktion der kleinteiligen Bereiche geworden? Wenn Du die Zeichnung anschaust und ggf. Dein Auge etwas zukneifst oder Du mehr Abstand nimmst, wie realistisch ist das Ergebnis? Falls es nicht sonderlich realistisch ist, was denkst Du woran das liegt? Wo hättest Du anders arbeiten müssen oder können?

  3. Was sind Deine Erkenntnisse, wenn es um das Thema „Verdichtung“ geht. Meine Erfahrung ist die, dass viele Seminarteilnehmer nicht zu einer starken Verdichtung kommen. Wie ist es bei Dir in dieser Übung?

Ich weiß, dass diese Übung wirklich schwer war! Ich kann immer nur jedem empfehlen, solche schwierigen Dinge so oft wie möglich zu wiederholen. Nur dadurch lernt man. Und anhand einer solchen Übung sieht man sehr schnell, wie komplex auch das Zeichnen mit dem Bleistift sein kann und wie wunderbar viel man immer wieder lernen darf. Genieße auch die Herausforderung und freue Dich auf die nächste Übung. Mit der nächsten Übung haben wir übrigens Halbzeit! Sei herzlich gegrüßt – Stephan